Nach der Definition, die ich in meinen Texten benütze, hat jeder Mensch
Religion. Religion bedeutet nicht das Bekenntnis zu einer speziellen
Religion wie Christentum oder Buddhismus oder zu individuellen
Überzeugungen wie der Existenz von Schutzengeln oder Außerirdischen.
Lateinisch religio heißt "Rückbindung", also in etwas
Rückhalt zu finden, was nicht in Frage gestellt wird, und sich an geistige
Denkmuster und moralische Regeln zu binden, weil ohne sie das Leben im Chaos
der Beliebigkeit versinkt.
Jeder Mensch ist gläubig. Die meisten Menschen glauben an eine höhere
Gerechtigkeit - und diejenigen, die sie leugnen, glauben daran, dass jeder
Mensch seines eigenen Glückes Schmied ist.
Beides ist nicht beweisbar;
beides gibt Sicherheit und Orientierung in einer Welt, die zu komplex ist,
um sie ständig zu hinterfragen.
Die Hälfte der Menschheit glaubt an Bestimmung, Schicksal, Karma oder Kismet;
die andere Hälfte glaubt an den Zufall.
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Nach meinen Beobachtungen sprechen Frauen offener über ihre
Religion als Männer und geben gerne sehr subjektive
Glaubenssätze von sich. Männer setzen ihre Religion eher in Taten und
Anstrengungen um, hinter denen jedoch, wenn sie hinterfragt werden, ebenso
subjektive Annahmen stehen.
Männer definieren ihr Weltbild oft rational und finden Sicherheit in ihrem
Verstand, in Logik und in (vermeintlich) wissenschaftlichen Überzeugungen.
Aber auch Rationalismus ist eine Religion: Dass die gesamte Welt logisch
erklärbar und durch den Verstand begreifbar ist, ist eine Basistheorie der
Wissenschaft, aber - streng wissenschaftlich betrachtet - nicht beweisbar
und daher nur ein Glaubenssatz. Tatsache ist, dass weder wir selbst noch die
Wissenschaft bislang alle Phänomene erklären oder begreifen können.
Rationalisten tun alles Unerklärte im Zweifelsfall als Zufall ab.
"Wenn ich keinen Zusammenhang erkenne, gibt es keine
Zusammenhang." Das ist eine zutiefst
religiöse Haltung.
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